Schreiben ist ab sofort Teamarbeit. Mit Sprachmodellen wie ChatGPT und Bard/Gemini können wir genau die Mitglieder ins Team holen, die wir gerade brauchen. Dabei kommt es nicht auf den perfekten Prompt an. Wichtiger ist es zu wissen, wen ich im Team haben möchte und wofür. Die gute Nachricht: Die berüchtigte Schwäche der Sprachmodelle wird hier zur Stärke - Halluzinieren ist erwünscht.
„Der arme Poet” wurde vor knapp 200 Jahren von Carl Spitzweg geschaffen. Ein Schriftsteller kauert in einer kargen Dachstube, in Decken gehüllt, ein Regenschirm schützt notdürftig gegen das undichte Dach. In Wes Andersons jüngstem Film „Asteroid City” sitzt ein Schriftsteller im Morgenmantel an der Schreibmaschine in seiner menschenleeren Villa - nicht arm, aber allein.
Schreiben gilt als einsames Geschäft. Als ich vor Jahren einen Job im Corporate Publishing zu vergeben hatte, bewarb sich ein PR-Talent mit tadellosem Lebenslauf. Ich fragte, ob er sich eine Karriere als Redakteur des Mitarbeitermagazins vorstellen könnte. Die Antwort: „Ja, aber irgendwann möchte ich wieder ins Rampenlicht.”
Wer gerne schreibt, steht oft ungern im Rampenlicht. Trotzdem muss es beim Schreiben nicht einsam zugehen. Im Gegenteil: Ein Team kann helfen, Ideen zu entwickeln, Impulse zu bekommen, neue Perspektiven einzunehmen oder einfach nur ins Schreiben zu kommen.
Schreiben mit ChatGPT und Gemini als Teamarbeit
Seit einigen Monaten schreibe ich immer öfter im Team. Mein Team besteht aus Sprachmodellen wie ChatGPT oder Bard, das jetzt Gemini heißt. Ich nutze die KI in allen Phasen des Schreibprozesses, von der Ideenfindung über die Textarbeit bis zum Redigieren. Am liebsten und am intensivsten nutze ich Schreib-KI in der ersten Phase, wenn ich Ideen entwickle und die Gliederung entwerfe.
Wie ich mir beim Schreiben mit ChatGPT und Bard/Gemini ein Team aufbaue, zeige ich in diesem Blogpost. Sicher gibt es noch viele andere Möglichkeiten, Sprachmodelle für diese Zwecke zu nutzen. Meine Erfahrungen gebe ich gerne weiter und freue mich, wenn sie anderen helfen, eine eigene Schreibpraxis zu entwickeln.
So nutze ich Sprachmodelle als Teammitglieder
Am Anfang steht die Frage: Welche Mitglieder brauche ich in meinem Team? Das ist im realen Leben so, und beim Schreiben ist es nicht anders.
Ich kann mir viele Rollen im Team vorstellen: Vom Kollegen, mit dem ich Ideen austauschen kann, über eine erfahrene Redakteurin, die mir Tipps geben kann, bis zur Chefredaktion, die meine Texte mit spitzer Feder redigiert. Ich kann meine Leserschaft ins Team holen, und da die Leserschaft immer divers ist, können es ganz unterschiedliche Rollen sein, die ich in meinem Team aufnehmen möchte, zumindest zeitweise im Schreibprozess. Und dann brauche ich Teammitglieder, die mir bei der Recherche helfen, von Zeitzeugen über Expertinnen bis zu Bibliothekarinnen.
Jede dieser Rollen kann an unterschiedlichen Stellen im Schreibprozess zum Einsatz kommen. Manche nur an bestimmten Stellen, während andere mich durch den gesamten Prozess begleiten.
Als Beispiel greife ich für diesen Blogpost zwei Rollen heraus, die ich fast immer nutze, wenn ich schreibe: Ein Kollege oder eine Kollegin und verschiedene Leser*innen.
Das Sprachmodell als Kollegin
Meine Kollegin hilft mir, Ideen zu entwickeln und zu schärfen. Das kann ganz am Anfang sein, wenn ich mich frage, welche Inhalte ich behandeln möchte. Die Kollegin kann genauso in späteren Phasen helfen, wenn ich die Inhalte skizziert habe und in einzelne Themen tiefer einsteigen möchte. Eine Kollegin kann mir auch helfen, die Textsorte zu wählen, also zu entscheiden, ob ich einen Erfahrungsbericht oder eine Reportage schreiben möchte, ob es doch ein Interview werden soll oder etwas ganz anderes. Dann entscheiden wir, wie ich in den Text einsteige. Möchte ich mit einer Anekdote starten, und wenn ja, was sollte sie zeigen? Oder bringe ich einen interessanten Fakt?
In all diesen Phasen kann ich mit der Kollegin ein offenes Brainstorming durchführen oder mit gezielten Fragen ihre Ideen und ihr Wissen abrufen.
Als Beispiel habe ich mit meiner Kollegin „Sprachmodell” an der Gliederung für diesen Blogpost gearbeitet. Mein erster Prompt lautete:
Du bist Journalist für Kreativität und KI. Schreibe eine Gliederung für einen Blogpost zum Thema: Wie man Sprachmodelle als Helfer und Sparringspartner im Schreibprozess nutzen kann, und zwar in der ersten Phase der Ideenfindung.
Ich habe den Prompt in ChatGPT 4 und in Bard/Gemini eingegeben. In der Ideenfindung nutze ich gerne beide Sprachmodelle parallel, weil sie sehr unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen.
In diesem Fall war mir die Antwort von ChatGPT zu detailliert und zu ausufernd. Ich bekam acht Aspekte, von „Grundlagen der Funktionsweise” bis zu „Grenzen der Modelle”. Bard hätte dagegen gern etwas tiefer einsteigen können. Ich bekam eine grundlegende Gliederung mit Einleitung, Hauptteil und Schluss sowie für jeden Teil einige Kernaussagen. Dazu lieferte Bard ungefragt einen Call to Action, Ideen für verwandte Themen und Vorschläge für die Bebilderung.
Wer selbst mit Sprachmodellen arbeitet, wird sicher schon gedacht haben: Was für ein unspezifischer Prompt! Stimmt, der Prompt ist allgemein gehalten. Eigentlich zu allgemein, um konkrete Antworten zu erwarten. Der Vorteil: Ich lasse beiden Systemen viel Raum. Wenn mir die Antworten nichts nützen, schärfe ich nach: Ich editiere den Prompt, ergänze Details und sehe, was das System dann antwortet. Das kann ich beliebig oft machen. Getreu der Regel: „Experiment and iterate - probiere aus und verändere schrittweise”.
Diese Art zu prompten liegt mir mehr, als mit einem ausgefeilten, strukturierten Prompt zu starten. Im Grunde entspricht es der Art, wie ich mit Kollegen diskutiere: Ich stelle anfangs eine offene Frage und bin gespannt auf alles, was kommt - und dann hake ich dort nach, wo mein Interesse geweckt wird.
Im konkreten Fall habe ich bei ChatGPT meinen Prompt auf die praktischen Aspekte des Themas zugeschnitten. Bei Bard habe ich inhaltliche Vorschläge aufgegriffen und gezielt nachgefragt.
Neben der ersten Ideenfindung gibt es viele andere Einsatzmöglichkeiten für die „Kollegin”. Besonders wertvoll ist diese Rolle mir auch am Ende, wenn mein Text fertig ist. Dann lasse ich sie Feedback auf den Text geben und frage, welche Kernbotschaften sie daraus ziehen würde. Oder ich lasse mir eine fiktive Rezension erstellen. Und natürlich lasse ich mir beim Lektorat und Korrektorat helfen.
Das Sprachmodell als Leserin
Schreibe so, als würdest Du mit jemandem persönlich sprechen: Dieser Tipp ist Gold wert. Ich mache das oft und gern. Ich sitze da und stelle mir vor, eine Leserin oder ein Leser säße mir gegenüber, und ich erzähle ihnen, was ich zu sagen habe bzw. was ich schreiben möchte. Ich frage, was sie interessieren würde, wie sie wohl über einzelne Punkte denken und was für sie in den Artikel unbedingt hinein gehört. Diese Art von Selbstgespräch ist eine gute Übung fürs Hirn, sie bringt die Denkzellen auf Trab und stellt die Weichen für einen flüssigen Schreibstil.
Der Haken: Wenn ich mich in die Lage meiner Leserin versetze, dann streife ich nie ganz meine eigene Person ab. Da kann es schon leicht passieren, dass ich mein Gegenüber sagen lasse, was ich gern hören würde.
Das Sprachmodell ist da unabhängiger. Ich definiere eine Leser-Persona und frage, was sie an meinem Thema interessieren würde. Die Antworten können mir mehr oder weniger gefallen - aber sie sind auf keinen Fall durch meine heimlichen Gedanken beeinflusst.
Auch hier starte ich mit einem einfachen Prompt. Beispielsweise:
Du bist Leser eines Reiseblogs. Ein Artikel berichtet darüber, wie man im Januar auf Usedom viel Zeit allein verbringen kann und zu sich kommen kann. Was würde dich daran interessieren?
Ich frage wieder ChatGPT und Bard, und schon bin ich mit zwei verschiedenen Lesern im Gespräch. Auch hier lohnt es sich, mit beiden Sprachmodellen zu arbeiten, weil sie auf ganz unterschiedliche Art antworten. Bei Bard kommen sogar zusätzliche Leserinnen dazu, wenn ich die Funktion „Weitere Vorschläge ansehen” nutze.
Meine Fragen variiere ich nach Belieben. Oft frage ich direkt, was meine Leserschaft an einem Thema interessiert. Ich frage, welches Thema auf jeden Fall im Artikel stehen soll. Und wenn ich ein Thema genannt bekomme, frage ich nach, warum dieses Thema und was daran interessant ist. So bleiben wir im Gespräch. Und wenn ich weitere Perspektiven einbinden möchte, definiere ich eine neue Leser-Persona.
Übrigens kann meine Leserschaft auch helfen, wenn ich meinen Text fertig habe. Ich frage, wie sie den Text finden, was sie davon am meisten interessiert, was sie einer Freundin daraus erzählen würden (das, was wir im Journalismus mit dem „Küchenzuruf“ zu greifen versuchen) und dergleichen mehr.
Wie schärfe ich meine Prompts nach? Um die Prompts zu spezifizieren, muss ich mir Gedanken über meine Leser-Persona machen. Dabei zeigt sich, wie gut ich die Leserschaft kenne und welche Vorstellungen ich von ihnen habe. Wenn ich im Prompt „Leserin eines Reiseblogs mit Interesse am Wandern“ spezifiziere, dann gibt mir das System wahrscheinlich Vorschläge über Wanderziele. Brauche ich dafür ein Sprachmodell und einen Prompt? Nein. Aber die Beschäftigung damit kann mir Klarheit über meine Leserschaft und ihre Präferenzen verschaffen.
Wer sich genauer mit der Leser-Persona beschäftigen möchte, kann mit den Persona-Creators spielen. Im GPT Store werden mehrere GPTs angeboten, die helfen, Personas zu erstellen. Ich habe einige von ihnen ausprobiert. Angenehm fand ich, wie ich schrittweise durch den Prozess der Persona-Erstellung geführt werde. Das Ergebnis hat mich nicht immer überzeugt, denn letztlich spiegeln die Personas, die erstellt werden, genau das wider, was ich vorher in meinen Antworten beschrieben habe. Auch hier geht es also mehr um den Prozess, sich mit den eigenen Zielgruppen auseinanderzusetzen - diese Arbeit kann uns wohl kein System abnehmen.
Ein Sprachmodell als Team: Was nützt das?
Sprachmodelle als Teammitglieder verwenden: Wozu mache ich das und was nützt es mir? Ich mag an dieser Art, mit Sprachmodellen zu arbeiten, dass die Modelle nicht einfach Zeit oder Mühen sparen sollen. Für mich liefern sie zusätzlichen Input, erweitern meinen Horizont und bereichern damit meine Arbeit. Natürlich könnte ich mir auch in Gedanken eine Leser-Persona an den Tisch setzen und mit ihr einen Dialog führen. Aber ich weiß, dass ich mich selber allzu oft dabei beschummle und die Leserin sagen lasse, was ich selber gerne im Artikel lesen würde. Der Aha-Effekt, der eintritt, wenn ich etwas lese, das für mich Sinn macht, aber an das ich nicht gedacht hätte - dieser Aha-Effekt bereichert meine Arbeit.
Halluzinieren erwünscht: Das Sprachmodell als kreative Helferin
Zudem können Sprachmodelle bei dieser Art der Arbeit eines ihrer Wesensmerkmale voll zum Einsatz bringen: das Halluzinieren. Dass Sprachmodelle halluzinieren oder falsch positive Antworten erzeugen, ist für viele Anwendungen ein Problem. Wann immer Fakten stimmen müssen und eine Antwort zuverlässig sein soll, braucht es deshalb eine Expertenrolle, die den Output des Sprachmodells prüfen kann.
Für kreative Arbeiten ist das Halluzinieren eine Stärke. Wir wollen ja gerade die abwegigen Ideen, die unlogischen Gedanken und die Regelbrüche, um kreativ zu arbeiten. Hier trifft der Spruch zu: „It's a feature, not a bug.“
Wie ich Sprachmodelle nutze, wenn die Fakten stimmen sollten, das werde ich im nächsten Blogbeitrag zeigen. Dann wird es darum gehen, wie das Sprachmodell mir beim Recherchieren hilft oder in die Rolle von Zeitzeugen und Expert*innen schlüpft.
Wie arbeitet Ihr mit Sprachmodellen beim Schreiben? Habt Ihr Tipps, Tricks oder auch Fails im Umgang mit Sprachmodellen? Wie können wir Sprachmodelle einsetzen, um unsere Kreativität auf eine neue Ebene zu heben? Ich freue mich auf Eure Kommentare. Bis dahin: Munter weiter schreiben!
Übrigens: Hier könnt Ihr lernen und trainieren, Sprachmodelle für kreatives Schreiben einzusetzen:
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Bei der dapr unterrichte ich Schreiben und Reden mit und ohne KI. Zum Beispiel in meiner Schreibwerkstatt für PR-Nachwuchskräfte oder im Intensivtraining “Reden schreiben”. Das Training könnt Ihr bei der dapr direkt buchen.
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Auf meinem Blog schreibe ich regelmäßig über das Schreiben mit KI. Ich gebe Tipps und Einblicke in meine Praxis. Nicht verpassen und gleich meinen Newsletter bestellen!
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