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  • AutorenbildHilge Kohler

Warum springt der Funke nicht?

Von der Mühe, ein virtuelles Publikum zu begeistern


Der Herbst hat mich ernüchtert. Nicht im Allgemeinen - aber bei Online-Events. Anlässe gibt es viele, ob Barcamp oder Konferenz, Workshop oder Fachtagung. Aber wenig Menschen melden sich an, noch weniger nehmen wirklich teil. Und die Events: Stimmung mittel, Begeisterung rar. Was ist los?


Der Sommer hat uns wohl gezeigt, was wir vermisst hatten: Spontan miteinander umgehen, ohne große Worte, ohne viel nachzudenken. Leise Zwischentöne und kleine Gesten bringen uns einander näher. Wir verstehen uns, ohne viel zu sagen. So ist es, wenn wir uns vor Ort treffen.


Und online? Vieles gelingt im virtuellen Raum inzwischen so gut wie vor Ort, manches besser. Aber manches lässt sich online nicht ersetzen.


Virtuelle Reden zünden schwer


Zum Beispiel Hauptversammlungen und ihre Reden. Zwar ist die Hauptversammlung kein Ort der großen zwischenmenschlichen Gefühle. Aber umso mehr fiel auf, dass sie in diesem Jahr komplett fehlten, die Emotionen und Spannungen.


Wir haben in diesem Jahr erneut die Reden der DAX30-Vorstände auf ihren Hauptversammlungen gehört, verglichen und bewertet. Wir sind ein Team aus Rhetorikprofis, die seit einigen Jahren solche Reden analysieren. In diesem Jahr liefen alle Hauptversammlungen erneut online, zum zweiten Mal. Dieses Jahr mit Vorbereitung. Unser Fazit ist nachzulesen im Handelsblatt. Kurz gesagt: Es wurde schlüssig argumentiert, bildhaft erzählt, mit Gesten betont und mit Pausen gespielt. Alles gut, alles in allem. Und trotzdem sprang kein Funke über, zumindest nicht zu mir.


Das ist auch kein Wunder. Seit Jahren sitze ich in Hauptversammlungen, die Hallen voll, die Themen so spannend wie Finanzergebnisse eben sein können. Aber wenn das Publikum sich freut und applaudiert - oder gerade nicht applaudiert und der Satz des Redners in der Stille spürbar auf den Boden fällt -, dann strömt durch die Reihen die Spannung des Live Events.


Und online: Da kann die Hauptversammlung live stattfinden, wir können ausführlich begrüßt werden und dem Redner kann die Nervosität auf der Stirn stehen. Aber wenn das Publikum nicht sichtbar, hörbar, spürbar ist, wenn kleine Gesten und leise Zwischentöne fehlen, dann wird aus der Rede kein Event.


Die Gartenecke als virtuelle Bühne


Rückschau Mai 2021: Die Grünen tagen, ihre Bundesdelegiertenkonferenz findet live in einer Halle statt. Einige Handvoll Delegierte sind vor Ort, tausende Mitglieder schalten sich online zu. In einer Gartenlaube, dekoriert mit Blümchen und Grünzeug, sitzt ein Moderatorenduo. Die beiden diskutieren mit Partei-Promis, bauen Bienenhotels und sorgen für bunte Stimmung zwischen den üblichen Redeauftritten eines Parteitags.


Die Kamera schwenkt in der Halle hin und her, bringt neue Perspektiven und Abwechslung auf den Bildschirm. Ja, die Gartenecke ist Geschmackssache und erinnert manche an den ZDF Fernsehgarten. Aber es funktioniert: Das Event findet live statt, vor Ort und online, und wir sind dabei.


Merke: Lange Vorträge funktionieren online nicht. Kurze Impulse mit Dialog und Perspektivwechsel bringen Leben ins Event.

Dann Auftritt Annalena Baerbock. Ja, sie verhaspelt sich bisweilen, aber egal. Es ist Wahlkampf und die Rednerin gibt alles, um zu überzeugen. Vor Ort applaudiert die kleine Menge eifrig. Aber - nein, es funktioniert nicht. Die Massen fehlen. Sie scheinen der Rednerin mehr zu fehlen als mir, der Zuschauerin zuhause.


Wer Baerbock im Bundestag oder auf Marktplätzen hat reden hören, weiß, dass sie das kann. Dass sie mit den Menschen in Kontakt geht und dabei aufblüht, dass sie zu Hochform auflaufen kann, wenn ihr das Thema am Herzen liegt. Aber hier, im virtuellen Raum: Ein Vortrag, redlich vorgetragen und hier und da mit Pathos gespickt. Das wird kein leidenschaftliches Plädoyer, keine flammende Rede. Auf halbem Wege verhungert wie ein Pflänzchen ohne Wasser. Das ehrliche Sch* beim Abgang bringt es auf den Punkt.


Jede Rede ist nur so gut wie ihr Publikum


So ist es: Eine gute Rede ist Dialog mit dem Publikum. Aber wie stelle ich Kontakt her mit dem Publikum, wenn es nicht sichtbar, hörbar, spürbar ist?


Interaktionen, Austausch im Chat, kleine Spiele können helfen. Sie können das Publikum sichtbar machen, uns von unseren Bildschirmen aus auf die virtuelle Bühne locken. Aber es bleibt eine Krücke für alle, die mitreißen und begeistern wollen und die dafür die kleinen Gesten und spontanen Reaktionen ihres Publikums brauchen. Ob Hauptversammlung oder Parteitag.


Der virtuelle Raum zeigt: Jeder Top-Speaker, jede brillante Rednerin braucht ein Top-Publikum. Gut beraten ist, wer sich auf der Bühne mehr ums Publikum kümmert als um sich selbst.

Online-Meetings haben Grenzen. Begeistern, motivieren, den Funken zum Publikum überspringen lassen: Das liefern versierte Redner:innen auf realen Bühnen, aber online funktioniert es nicht. Die Zwischentöne fehlen im virtuellen Raum.


Den Verlust der leisen Gesten müssen wir wettmachen, so weit es geht. Im virtuellen Raum heißt es, eng mit dem Publikum zu arbeiten. Im Dialog können wir die Zwischentöne ersetzen. Wer online Vorträge hält, tut gut daran, zu moderieren statt zu dozieren.


Moderieren mit Chat, Fragen und Tool


Moderations-Tipps gibt es viele, für fast jede Gelegenheit findet sich etwas passendes. Ausprobieren ist Gold wert. Meine Favoriten für viele Situationen:


  • Früh den Chat einsetzen. Am besten gleich zur Begrüßung. Satzanfänge posten, die das Publikum vervollständigt. Mit Freude vorlesen und wohlwollend kommentieren.

  • Eine einfache Frage stellen. Das Wort erteilen, indem ich einen Stift in die Kamera halte und frage, wer den Stift aufgreift. Irgendjemand erbarmt sich, nimmt den Stift (indem er einen eigenen Stift hochhält) und antwortet. Das Eis ist gebrochen, der Stift kann von Teilnehmerin zu Teilnehmer weiter wandern. Lachen und Bedanken hilft dabei ungemein.

  • Für online-erprobtes Publikum: Tool einsetzen. Ein Tool, auf dem die Teilnehmenden abstimmen, Wortwolken erzeugen, anonym kommentieren und fragen, etc. Das bringt Abwechslung ins Spiel. Aber Vorsicht, ein externes Tool kann schnell überfordern - auch die Vortragenden, die es im Blick halten müssen, Technik-Probleme lösen etc. Gut, wer dafür einen Co-Host hat.

Das Winterhalbjahr hat begonnen. Mit ihm stehen uns noch viele Online-Events bevor. Klar, wir können sie erdulden oder meiden. Oder wir nutzen jedes Online-Event, um zu lernen. Um zu erkunden, wie wir im virtuellen Raum Begeisterung erzeugen. Vielleicht springt der Funke dann auch bald online über.





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